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Geschlechtergerechtigkeit Was Deutschland von Island lernen kann

Island gilt als vorbildlich, wenn es um Gleichberechtigung geht. Was macht der Inselstaat besser? Und welche Probleme gibt es auch dort? Ein Besuch.
Áslaug Arna Sigurbjörnsdóttir, Abgeordnete der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei

Áslaug Arna Sigurbjörnsdóttir, Abgeordnete der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei

Foto: SPIEGEL ONLINE

Der Wind, der durch die Straßen von Reykjavik faucht, ist furchteinflößend. Eiskalt erwischt er drei Frauen, die nahe der Faxaflói-Bucht aus dem Schutz der Häuser auf eine Kreuzung treten. Er rüttelt und zerrt an ihnen, bis sie fast zu Boden gehen.

Dabei können Isländerinnen mit Gegenwind umgehen. Seit vielen Jahren findet man Island an der Spitze von Gleichstellungsrankings . Auf den ersten Blick sind die Frauen hier präsenter und engagierter als anderswo. Und kompromissloser. Denn auch in dem Inselstaat haben sich die Frauen ihre Teilhabe erkämpfen müssen.

Hat Island ein Geheimrezept für Gleichberechtigung? Gibt es etwas, das Deutschland möglicherweise von den Frauen - und Männern - im Norden lernen kann?

Reykjavik

Reykjavik

Foto: SPIEGEL ONLINE

Protest und Widerstand

"Wir sind stark durch unsere Bewegung", sagt die Historikerin und Feministin Sara Hrund Einarsdottir, die an diesem windigen Tag gut gelaunt und mit offener Jacke eine Gruppe bibbernder Touristinnen durch Reykjavik führt, um ihnen die feministische Tradition Islands nahezubringen. Sie verweist auf die Demonstrationen, die immer wieder vor dem Parlament, dem Althing, stattfinden: die #MeToo-Proteste, die "Free-The-Nipple"-Kampagne oder die Slut-Walks, mit denen Frauen in aller Welt gegen die Behauptung demonstrieren, Vergewaltigungsopfer trügen oft eine Mitschuld, weil sie sich wie sluts, also wie Schlampen anzögen.

Einarsdottir sagt, Frauen müssten sich Gehör verschaffen und laut sein, um sich durchzusetzen. Und sie sollten beharrlich bleiben: "Wir geben niemals auf." Einarsdottir traut man das zu.

Tatsächlich scheint der Wille der Isländerinnen, sich politisch zu engagieren und für ihre Rechte zu demonstrieren, besonders groß. Initialzündung waren Kundgebungen am 24. Oktober 1975, als eine überwältigende Mehrheit der Frauen einem Streikaufruf folgte.

Aufmacherbild der Zeitung "Morgunbladid" vom 25. Oktober 1975

Aufmacherbild der Zeitung "Morgunbladid" vom 25. Oktober 1975

Foto: Morgunbladid

"Das war ein Riesending", erinnert sich die Schauspielerin und Regisseurin Thorhildur Thorleifsdottir, die später Abgeordnete der "Frauenallianz" im isländischen Parlament wurde. Mehr als 90 Prozent aller Frauen verließen ihren Arbeitsplatz oder ihre Häuser, um auf der Straße gegen ihre ungleiche Bezahlung zu demonstrieren. Das öffentliche Leben kam zum Erliegen. "Über diesen Akt der Solidarität haben wir unsere Stärke erkannt: Die Gesellschaft funktioniert nicht ohne Frauen." Und dann kam Vigdís Finnbogadóttir.

Die Ikone

Als man sie 1980 bat, zur Präsidentschaftswahl anzutreten, sträubte sich Vigdís Finnbogadóttir: "Nein, das kann ich nicht", sagte sie. Heute muss sie darüber lachen. "Das war so eine typische Frauenantwort."

Ganz knapp setzte sich die Parteilose gegen drei Männer durch. Doch über die Jahre gewann sie enorm an Popularität und wurde dreimal wiedergewählt. Auch wenn das Präsidentenamt in Island eher repräsentativen Charakter hat, war es ein Meilenstein, als erste Frau weltweit in diese Position gewählt zu werden - noch dazu als geschiedene Alleinstehende mit einem Adoptivkind. "Meine Kandidatur hat mit der Tradition gebrochen", sagt die heute 88-Jährige. Inzwischen seien Frauen in der Politik etwas Selbstverständliches: "In Island ist der Feminismus stark, wir setzen Maßstäbe."

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Sie sei sehr stolz auf die vielen Frauen im Parlament, auch wenn deren Anteil nach der vergangenen Wahl massiv zurückgegangen sei, von 47,6 auf 38,1 Prozent. Auch in Deutschland sank er - auf knapp 31 Prozent.

"Je mehr Frauen an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sind, desto mehr Frieden werden wir haben", ist Vigdís Finnbogadóttir überzeugt. "Frauen führen offene Diskussionen und Verhandlungen, sie suchen den Konsens. Die mächtigen Herren erteilen Befehle und schweigen Probleme tot."

Gleichstellung in Island: Die Errungenschaften

Die Frauenpartei

Für die jungen Frauenrechtlerinnen im Land war die Wahl von Vigdís Finbogadóttir ein Startschuss: "Wenn eine Frau Präsidentin ist, warum sind wir dann nicht im Parlament?", fragte sich die Anthropologin und spätere Abgeordnete Sigridur Dúna Kristmundsdóttir. 1983 gründete sie mit anderen Aktivistinnen die Frauenallianz, eine Partei, der es noch im selben Jahr auf Anhieb gelang, mit 5,5 Prozent der Wählerstimmen ins Parlament einzuziehen. 1987 erreichte die Liste mehr als zehn Prozent und konnte sich bis in die Neunzigerjahre im Althing behaupten.

"Wir verloren an Stimmen, als die etablierten Parteien begannen, unsere Themen auf ihre Agenda zu setzen", erinnert sich die ehemalige Professorin. Ein normaler Prozess: "Wir haben ihnen in den Hintern getreten und es hat funktioniert - das ist es, was eine Frauenpartei machen muss."

Wieso ist das bisher in Deutschland nicht gelungen? Allein im 20. Jahrhundert gab es hierzulande mehr als ein Dutzend feministische Parteien - doch keine konnte sich dauerhaft durchsetzen. "Es ist der Mangel an Ressourcen, Zeit und Geld, der verhindert, dass Frauen sich in der Politik engagieren", meint Margot Müller, Sprecherin der 1995 gegründeten Partei "Die Frauen", die bei der Bundestagswahl 2017 auf gerade mal 439 Erststimmen kam.

Junge Frauen würden sich heute eher spontan zu Flash Mobs versammeln als dauerhaft für eine Partei aktiv zu sein, so Müller. "Sie stehen unter dem Druck, permanent verfügbar und flexibel zu sein, das hinterlässt Spuren."

Alleinerziehende Mütter zählten inzwischen zum Prekariat und hätten teilweise nicht einmal genug Geld, um zu Parteiversammlungen in andere Städte zu fahren. Es sei schwer, Parteispenden aufzutreiben. Da Frauenrechtlerinnen traditionell aus dem linken politischen Spektrum kämen, gebe es kaum finanzkräftige Spender aus dem konservativen Unternehmermilieu. "Feminismus scheint nicht förderungswürdig zu sein."

Männer ins Boot holen?

Im isländischen Parlament gibt es keine Frauenquote, einige Parteien haben sie allerdings freiwillig eingeführt. An sogenannten Friseursalon-Tagen treffen sich Frauen und Männer, um über Gleichstellung zu debattieren. Ein Verhaltenskodex soll Abgeordnete in die Gender-Verantwortung nehmen.

"Wir müssen die Männer mit an den Tisch holen - nicht nur in unserem, sondern auch in ihrem Interesse", sagt Áslaug Arna Sigurbjörnsdóttir, Abgeordnete der liberal-konservativen Unabhängigkeitspartei. "Gleichberechtigung bedeutet eine Win-Win-Situation, wo sie herrscht, geht es dem Land besser", ist die 28-jährige Juristin überzeugt. Gleichstellung dürfe keinesfalls nur eine Angelegenheit der Frauen sein, mehr weibliches Führungspersonal wirke sich schließlich auf den Erfolg von Unternehmen aus .

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Ende November kamen Hunderte Frauen aus der ganzen Welt zum "Women Leaders Global Forum" in Reykjavik. Sie wollten wissen: Wie motiviert man Frauen, in den Schaltzentralen von Politik und Wirtschaft mitzumischen? Die Politikprominenz zeigte reges Interesse: Regierungschefin Katrín Jakobsdóttir eröffnete das Treffen, Präsident Gudni Thorlacius Johannesson begrüßte die Teilnehmer per Handschlag, Außenminister Gudlaugur Thor Thordarson erklärte: "Wir Männer sind ebenso begeistert von der Gleichstellung wie die Frauen."

Doch nur einen Tag später wurde der Mitschnitt eines Gespräches öffentlich, in dem mehrere Parlamentarier in einer Bar drei Stunden lang weibliche Abgeordnete auf sehr vulgäre Art abwerten und beleidigen - darunter eine schwerstbehinderte Frau.

Protest gegen die Unverfrorenheit der Politiker

Mit von der Partie war der Ex-Ministerpräsident und ehemalige Vorsitzende der Fortschrittspartei, Sigmundur David Gunnlaugsson. Er musste 2016 zurücktreten, nachdem durch die Panama Papers bekannt geworden war, dass er eine Briefkastenfirma auf den Britischen Jungferninseln erworben hatte. Er entschuldigte sich nicht wie seine Kollegen bei den Frauen, sondern schrieb auf Facebook, der wahre Skandal sei, dass private Gespräche von Politikern heimlich aufgezeichnet würden.

Pikant: Einer der Bar-Politiker, der Abgeordnete Gunnar Bragi von der Zentrumspartei, hatte sich in der Vergangenheit besonders für die Gleichstellung von Mann und Frau eingesetzt. Er ließ sich beurlauben. Zwei weitere Abgeordnete wurden zwar aus ihrer Partei ausgeschlossen, blieben aber als Parteilose im Parlament.

Proteste vor dem Parlament in Reykjavik (Archivbild)

Proteste vor dem Parlament in Reykjavik (Archivbild)

Foto: Morgunbladid/ Arni Saeberg

Hunderte Isländer protestierten. Der Vorfall zeigte überdeutlich: Auch Islands Gesellschaft ist nicht gefeit vor einer Kultur, die Frauen verachtet und zum Objekt macht. "Das Patriarchat existiert seit vielen Tausend Jahren, es dauert lange, die Strukturen zu verändern", sagt Anthropologin Sigridur Dúna Kristmundsdóttir. "Es ist ein Marathon, kein Sprint."

Zu wenig weibliche Führungskräfte in Unternehmen

Island ist traditionell wirtschaftsliberal, Quoten und staatliche Regulierung sind daher eher unpopulär. In den Vorständen sollen qua Gesetz mindestens 40 Prozent Frauen vertreten sein. "Das funktioniert aber noch nicht allzu gut", sagt Áslaug Arna Sigurbjörnsdóttir von der Unabhängigkeitspartei.

Auch in Deutschland schleppt sich die Gleichstellung: Hier gilt die Frauenquote von einem Drittel nur für Aufsichtsräte, sie stieg zuletzt auf 28,4 Prozent. In den Vorständen sieht es weiter mager aus: 8,6 Prozent Frauen.

Bei manch hochqualifizierter Frau macht sich Sarkasmus breit. "Es ist sicher nicht Islands Unternehmenskultur, die uns zum Gleichstellungsvorreiter gemacht hat", sagt Handelskammer-Präsidentin Katrín Olga Jóhannesdóttir. Gerade mal acht Prozent der 400 größten Firmen im Land würden von Frauen geführt - "in der Geschäftswelt haben weiter die Männer das Sagen".

Selbst wenn Frauen in Vorständen säßen, würden die Männer im Vordergrund agieren. Zudem seien Frauen im mittleren Management unterrepräsentiert.

Es gibt in Island mehr Frauen als Männer mit Hochschulabschlüssen, rund 80 Prozent der Frauen sind berufstätig, darunter viele in technischen Berufen. "Wir haben Kompetenz und Erfahrung, aber man traut uns nichts zu", sagt Katrín Olga Jóhannesdóttir. Diese schwer zu brechende Norm verhindere Fortschritt - dabei sei es schon aus unternehmerischen Gründen von Vorteil, für Vielfalt zu sorgen: "Mit mehr Frauen läuft das Geschäft besser - die Gewinne steigen und die Unternehmenskultur verbessert sich."

Pay Gap weiter vorhanden

Seit Januar 2018 sind isländische Unternehmen mit mehr als 25 Angestellten gesetzlich verpflichtet, Männern und Frauen für vergleichbare Jobs gleiche Löhne zu zahlen. Bei Verstoß drohen Bußgelder von bis zu 365 Euro pro Tag. Die Maßnahme soll bis 2021 umgesetzt sein, deshalb ist es für eine Evaluierung noch zu früh. Doch bereits das erste, 1961 eingeführte Gesetz hatte nicht zu dem erwarteten Erfolg geführt.

Einer Studie der Weltbank  zufolge belaufen sich die globalen Wachstumsverluste durch Einkommensunterschiede bei Männern und Frauen auf geschätzt 160 Billionen US-Dollar. Bei gleicher Bezahlung könne das Wachstum in den untersuchten 141 Ländern um mehr als 20 Prozent steigen, heißt es.

Zwar gelang es Island, die Unterschiede über die Jahre kontinuierlich zu verkleinern. Geschlechtergerechtigkeit herrscht noch lange nicht.

Warum eine gerechte Bezahlung so schwer durchzusetzen ist, vermag auch Islands Ex-Präsidentin Vígdis Finnbogadóttir nicht zu erklären: "Wenn ich wüsste, wie wir die Gender Pay Gap schließen können, würde ich es der ganzen Welt verkünden." Letztlich gehe es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Frauen gleich intelligent und kompetent sind.

Doch so manchem Isländer scheint genau das Angst zu machen. Auf die Frage, was er von der Frauenbewegung halte, grummelt ein Arbeiter am Flughafen: "Das wird immer schlimmer, irgendwann werden sie das ganze Land übernehmen." Wohl kaum. Die ihnen zustehende Hälfte, vielleicht.


Zusammengefasst: Frauenrechtlerinnen in Island sind politisch engagiert und gut vernetzt. Zeitweise war fast die Hälfte der Parlamentarier weiblich, die Zahl ist jedoch wie in Deutschland gesunken. Die Kinderbetreuung wird gefördert, hat aber Lücken. Die Elternzeit für Väter und Mütter ist zwar besser bezahlt als in Deutschland, dafür aber derzeit noch kürzer. Island hat die Gender Pay Gap maßgeblich verkleinert, aber nicht beseitigt. Der Versuch, qua Gesetz die Gleichstellung voranzutreiben, ist nur teilweise gelungen. Frauenquoten werden nur langsam umgesetzt, vor allem in Unternehmen gibt es Widerstand. Auch in dem Inselstaat müssen Frauen sich gegen Sexismus und Benachteiligung zur Wehr setzen.